SHG Fackelträger

INFOBOX - Immer wieder gibt es aktuelle Themen, die uns beschäftigen. Hier greifen wir alles auf, was uns als Gruppe angeht, was für uns wichtig ist oder was wir mit euch teilen möchten.


Michael Winterhoff im Interview
Kinderpsychiater warnt: "Es wächst eine Generation unfreier Narzissten heran"

FOCUS-Online-Redakteurin Kerstin Kotlar Sonntag, 30.08.2020

Kinder sollen viel selbst entscheiden: wo sie spielen, was sie lernen. „Offenes und freies Arbeiten“ ist in Kitas und Schulen sehr beliebt. Doch die Konzepte wirken sich fatal auf die Psyche unserer Kinder aus, warnt Michael Winterhoff. Es ist eine „Katastrophe“, was in Deutschland mit Kindern aktuell passiert. Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff sieht die Zukunft des Landes ziemlich düster und prophezeit uns eine Generation von Narzissten. „Die Kinder von heute kreisen nur um sich selbst und werden nicht arbeitsfähig sein“, mahnt Winterhoff im Gespräch mit FOCUS Online. Doch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben und plädiert leidenschaftlich dafür, dass „Eltern sich gegen offene Kita-Konzepte wehren und Lehrer den Maulkorb abnehmen“.

FOCUS Online: Wenn Kinder in Kitas viel selbst entscheiden, hat das fatale Folgen. Warum sehen Sie das so?

Michael Winterhoff: Offene Kitas sind hochgradig schädlich für die Kinder, weil sie sich hier psychisch nicht entwickeln können. Ihnen wird eine Welt vorgegaukelt: Du kannst alles alleine, du machst alles alleine, das Leben besteht nur aus dir und Lust und Laune. Das ist eine große Katastrophe.

FOCUS Online: Wie wirkt sich diese aus?

Winterhoff: Wir werden eine immer größere Gruppe haben, die sich nur um sich selbst dreht. Das werden Narzissten, das werden Menschen, die lustorientiert in den Tag leben, in völliger Versorgungsabhängigkeit. Das werden keine freien Menschen sein, sondern es wächst eine Generation unfreier Kinder heran. Es ist sträflich, was wir in unserem Land machen. Wir sparen uns kaputt und bauen uns damit selbst ab. Nur wenn man eine so tolle Psyche mitbekommen hat wie wir, kann man eine Demokratie leben und einen Sozialstaat, in dem der Stärkere für den Schwächeren da ist.

FOCUS Online: Was meinen Sie mit „toller Psyche“?

Winterhoff: Meine Generation und die folgende sind zu einer der erfolgreichsten der Welt geworden. Wir sind umsichtig, weitsichtig, vorausdenkend, können alle Leistung erbringen. Wir sind in einer Hochkultur, ähnlich der Römer und Griechen, groß geworden. Die größte Errungenschaft war die, dass jeder Mensch im Rahmen der Kindheit eine emotionale, soziale Psyche entwickelt.

FOCUS Online: Diese Psyche können die Kinder heutzutage nicht mehr entwickeln?

Winterhoff: Nein. Wenn ich die Kinder in einer Kita nur herumlaufen lasse, sie entscheiden können, was sie machen und auf sich selbst gestellt sind, ist es das Schlimmste, was wir machen können. Damit sind wir zurück im Mittelalter, als Kinder auch einfach groß geworden sind.

Kinder brauchen eine Zeit lang, um sich zu entwickeln. Hier ist der Erwachsene zuständig, sie ins Erwachsenenleben zu führen. Die Kindheit ist die einzige Phase im Leben, in der der Mensch keine Verantwortung tragen sollte.

FOCUS Online: Sie sagen, dass bis 1995 alle Kinder auf dem psychischen Entwicklungsstand ihres Alters waren. Was hat sich seither verändert?

Winterhoff: Experten der OECD bestimmten, Kinder müssten sich möglichst früh alles selbst erarbeiten und selbst entscheiden. Das ist eine rein ideologische Verfügung. Lehrer wurden nicht gefragt, sondern haben einen Maulkorb bekommen. Bildungspolitisch wird diese Strategie fortgesetzt. Was in Deutschland passiert, ist mittlerweile eine staatlich verordnete Verdummung.

FOCUS Online: Woran machen Sie diese fest?

Winterhoff: Wir sehen schon beim Übergang von der Schule in den Beruf: Laut Konrad-Adenauer-Studie sind 50 Prozent der Abiturienten nicht mehr hochschulreif. Vielen fehlen Grundkenntnisse in Deutsch und Mathe, manche können nicht einmal sinnerfassend lesen. Wir sehen das in kaufmännischen Berufen, in denen ein Drittel der Lehrstellen nicht besetzt sind.

FOCUS Online: Und dieser Schaden ist schon in der Kita entstanden?

Winterhoff: Das Bildungswesen hat sich seit 20 Jahren sehr verändert. Es herrscht die Vorstellung, dass Kinder kleine Persönlichkeiten sind, die sich frei entfalten sollen, alles bestimmen und kein Erwachsener soll eingreifen.

FOCUS Online: Sie meinen aber, Erwachsene sollen mehr eingreifen?

Winterhoff: Ja! Man hat Erzieher und Lehrer zum Begleiter gemacht. Damit hat man den Kindern die Bezugsperson genommen. Doch Kinder suchen Halt und Orientierung. Ein Kind kann sich nur am Gegenüber entwickeln. Nur so gewinnt es Sicherheit, um zu lernen, was gut und was schlecht ist.

FOCUS Online: Das heißt, was muss dieses Gegenüber leisten?

Winterhoff: Die Persönlichkeitsentwicklung ist ja ein Gehirnreifungsprozess, der vergleichbar damit ist, wenn jemand ein Instrument oder eine Sportart lernt. Nehmen wir das Beispiel Tennis spielen lernen: Der Trainer kann 30 Jahre jünger sein als ich, wir können uns duzen. Aber auf dem Platz haben wir das Verhältnis Trainer-Schüler. Der Trainer coacht mich liebevoll, korrigiert etwa falsche Arm- oder Beinhaltung und hat einen Übungsaufbau, wie er jemandem Tennis beibringt. Das brauchen wir sogar als Erwachsene. Kinder brauchen also erst recht jemanden, der sie an der Hand nimmt.

Bei den kleinen Kindern heute machen wir es so: Sie bekommen einen Tennisplatz, einen Schläger und Bälle. Dann sollen sie es sich selbst beibringen. Es gibt schon einen Trainer, den man mal fragen kann oder der mal vorspielt. Aber so würden aus den Kindern niemals Tennisspieler werden.

FOCUS Online: Was sind also die wichtigsten Kompetenzen, die Kinder lernen sollten?

Winterhoff: Erst einmal ist es wichtig, dass Kinder die Erfahrung machen, dass es ein Gegenüber gibt, an dem sie sich orientieren können. Sie brauchen eine Verbindlichkeit und mehr Coaches statt Begleiter.

FOCUS Online: Das bedeutet konkret?

Winterhoff: Kinder müssen einüben, dass sie besser aushalten und abwarten können. Wenn sie also einen Stuhlkreis machen, müssen sie vorher unter Anleitung aufräumen. Dann setzen sie sich hin und sollen einüben, auch sitzen zu bleiben. Sie müssen lernen, dass sie anderen zuhören und anderen nicht reinreden, sondern warten, bis sie dran sind. Damit üben sie beispielsweise Frustrationstoleranz und Rücksichtnahme auf andere, ebenso sich auf das, was der andere sagt, zu konzentrieren. Sie üben außerdem ein, dass sie nicht immer alles bestimmen können. Zudem brauchen sie sprachliche Fähigkeiten, genauso wie Feinmotorik etwa beim Schleife binden.

Unsere erworbene Intelligenz entwickelt sich nur am Gegenüber, das einen altersgemäß fordert und anleitet. Das sind wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychoanalyse zur Persönlichkeitsentwicklung. Wir sind allerdings dahin gekommen, dass wir Kindern immer weniger abverlangen. Je weniger man fordert, desto weniger ist Entwicklung möglich.

FOCUS Online: Wenn die Kitas das Ihrer Meinung nach nicht leisten. Wie können Eltern gegensteuern?

Winterhoff: Die Eltern haben die Möglichkeit, Druck zu machen. Sie können sich beim Träger beschweren, an die Bildungspolitiker herantreten. Ich rufe zu einer Bildungsoffensive auf, die nur zustande kommt, wenn die Erwachsenen sich formieren. Ihre Forderungen müssen sein: Wir brauchen Kitas mit klaren Strukturen, klaren Abläufen, klaren Bezugspersonen und Förderung in Bereichen wie Sozialverhalten und Motorik

Brauchen wir ein eigenes Forum?

Dieses Thema ist im Moment in der Gruppe aktuell und wir möchten hier kurz darauf eingehen.
Was ist Forum überhaupt?
Ein Forum ist für uns eine Internet-Plattform, wo wir uns austauschen können, Fragen stellen, Probleme besprechen können. Es dient der Informationsweitergabe ebenso wie der Kontaktaufnahme zu anderen Angehörigen. Bis jetzt haben wir eine Untergruppe im Forum der SHG und die Frage war, ob wir ein eigenes Forum benötigen.
Unsere Abstimmung hat ergeben:
14 Angehörige sind gegen ein eigenes Forum - 5 Angehörige sind für ein eigenes Forum - 6 enthalten sich.

 

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Was Eltern tun können, um ihre Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen

Interview vom 5. Juni 2020 mit Carolin Buchheim und Nils Vogelsang, Diplom-Pädagoge und Geschäftsführer der Fachberatungsstelle Wendepunkt e.V. in Freiburg (Badische Zeitung)

In Hartheim ist ein Kind entführt und sexuell missbraucht worden. Vorfälle wie dieser verunsichern Eltern – was können sie tun? Der Fachberater Nils Vogelsang sagt: "100 Prozent Schuld hat der Täter."

Was müssen Eltern grundsätzlich über sexuellen Missbrauch von Kindern wissen?
Nils Vogelsang: Die meisten Fälle von sexuellem Missbrauch geschehen im Bekanntenkreis oder in der Familie. Übergriffe von Fremdtätern sind eher die Ausnahme. Wir gehen davon aus, dass in weniger als zehn Prozent der Fälle der Täter ein Fremder ist. In mehr als 90 Prozent ist es jemand, der das Kind gut kennt und mit dem es ein Vertrauensverhältnis gibt.
Ist die Sorge der Eltern also in den falschen Momenten besonders groß? Beim Gang alleine auf den Spielplatz – und nicht beim Besuch des Sportvereins?
Vogelsang: Die Aufmerksamkeit sollte sich nicht darauf erstrecken, welcher Fremde einem komisch vorkommt, oder dass das Kind in der Öffentlichkeit besonders stark beschützt werden muss. Grundsätzlich würde ich Eltern ohnehin davon abraten, mit großer Sorge oder Ängstlichkeit das Kind durchs Leben zu begleiten. Es ist gut, wenn man dem Kind Zuversicht, Mut und Selbstbewusstsein mitgibt, aber es auch vorbereitet auf Situationen, die schwierig sein können. Eine gute Botschaft, die man Kindern mitgeben kann ist: "Niemand darf Dich anfassen, wenn Du das nicht willst". Es sollte darum gehen, das Kind zu stärken.
Wie können Eltern das ihren Kindern vermitteln?
Vogelsang: Man kann das im Erziehungsalltag einüben. Wenn man mitkriegt, dass die Oma das Kind vielleicht küssen will, aber das Kind sträubt sich so ein bisschen – dann kann man eingreifen und sagen: "Es ist in Ordnung, dass Du das nicht willst". Und auch wenn das Kind die Grenzen anderer Kinder nicht respektiert – dann kann man als Elternteil sagen: "Ich habe Dir gesagt, niemand darf Dich anfassen, wenn Du das nicht willst – das gilt auch für andere Kinder und Du musst das respektieren." Wenn Kindern das lernen, kann das schon ein Puzzlestein in einer sehr guten Präventionsstrategie gegen sexuellen Missbrauch sein.

Nils Vogelsang rät Eltern zu diesen Sätzen an ihre Kinder:

"Niemand darf dich anfassen, wenn du es nicht willst. Du darfst nein sagen."

"Du hast keine Schuld, wenn jemand dich trotzdem anfasst."

"Nimm deine Gefühle ernst und höre auf sie."

"Du darfst dir Hilfe holen."

"Du darfst ein schlechtes Geheimnis weitersagen."

"Ich hab dich lieb und werde dir immer helfen - auch wenn du dich für etwas schämst oder glaubst, du hättest etwas falsch gemacht."

Wie gehen Täter vor?
Vogelsang: Missbrauchstäter machen sich zum Beispiel oft zu Nutze, dass Kinder von Eltern auch heute noch oft vermittelt bekommen, dass sie tun müssen, was Erwachsene ihnen sagen. Dazu kommt, dass Geheimnisse für Kinder etwas ganz großartiges sind. Wenn Kinder untereinander Geheimnisse haben, dann fühlt sich das ganz toll an und mächtig gegenüber den Eltern. Missbrauchstäter sagen etwa: "Pass mal auf, wir machen was zusammen und das ist unser Geheimnis." Der Gedanke fühlt sich für Kinder auch gut an, "Ich habe ein Geheimnis mit diesem Erwachsenen, den ich eigentlich mag". Dann macht der aber etwas, das gar nicht schön ist. Und dann soll das Kind trotzdem das Geheimnis für sich behalten. Deswegen ist es auch gut wenn Eltern vermitteln: "Ein gutes Geheimnis darfst Du für Dich behalten, ein schlechtes Geheimnis darfst Du weitersagen."
Haben Fremd-Täter besondere Strategien?
Vogelsang: Sie nutzen oft die Neugier von Kindern aus. Und sie hebeln gezielt die Strategien von Eltern aus, mit denen diese Kinder schützen wollen. Alle Eltern warnen Kinder vor dem Fremden mit den Süßigkeiten. Ein Täter weiß, dass er sich extrem geschickt verhalten muss, um diese Aussagen der Eltern vergessen zu machen – und manchmal gelingt das. Man muss sich immer wieder bewusst machen: 100 Prozent Schuld hat der Täter. Wenn ein Missbrauch passiert, liegt das nicht daran, weil Eltern etwas versäumt haben oder Kinder zu unvorsichtig waren oder die falsche Hose anhatten – sondern dass der Täter geschickt war. Eltern und Kinder tragen keinen Anteil an der Schuld.
Bei Debatten in den Sozialen Medien verschieben Menschen schnell die Schuld – und fragen etwa "Wo waren die Eltern?"
Vogelsang: Das Verschieben der Schuld ist eine Bewältigungsstrategie: Wer so etwas schreibt, will sich versichern, dass das etwa dem eigenen Kind nicht passieren kann. Dabei gibt es diese Garantie nicht. Es ist nachvollziehbar, dass Menschen so denken – aber das öffentlich zu formulieren, wo Betroffene es lesen können, ist verletzend.
Woran können Eltern bei sich arbeiten?
Vogelsang: Ein Kind braucht die Sicherheit, dass es seinen Eltern etwas sagen darf, und dass die Eltern nicht vorschnell ungläubig reagieren. Es kann immer mal vorkommen, dass ein Kind in einem unpassenden Moment kommt und sagt: "Ich will aber heute nicht zum Onkel, der soll nicht auf mich aufpassen." Es ist Samstagabend – und dass der Onkel auf das Kind aufpasst, ist schon lange vereinbart, die Eltern wollen ins Theater. Dann braucht es viel Sensibilität, dass die Eltern nicht sagen: "Doch, Du gehst da aber hin." Sondern fragen: "Weshalb möchtest Du nicht hin?"
Sollten Eltern auch schon mit ganz kleinen Kindern über Missbrauch sprechen – auch, wenn diese noch nicht aufgeklärt sind?
Vogelsang: Ein Kind muss nicht wissen, wie Fortpflanzung funktioniert, um zu Verstehen, dass es das Recht an seinem Körper hat. Altersgerecht kann man auch schon sehr jungen Kindern vermitteln, dass es okay ist, wenn sie Berührungen nicht mögen. Das wissen schon sehr junge Kinder, das kann man stärken und fördern.

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